Den Boden unter den Füssen wiederfinden

LangSamer ist ein einzigartiger Gemüsegarten in Biel. Er bietet Menschen in schwierigen Lebenssituationen Halt und Perspektiven.

Mathias Stalder

Ein Morgen auf der Gurzelen: Georges Waeber inspiziert die frischgeernteten Bohnen. Denn heute ist Mittwoch und die Gemüselieferungen für seine KundInnen werden bereitgestellt. «Di mache am Projekt alli Ehr. Di sy grad gar langsam gwachse», sagt er in seinem etwas breitgezogenen Fribourger-Dialekt zu seinen Bohnen. Mit so viel Liebe gewachsenes Gemüse sollte einfach nur gut sein. Und tatsächlich folgt der nächste Höhepunkt mit den von Marianne geernteten Karotten, die eine stattliche Grösse erreicht haben. Die Freude bei Georges ist gross, da er seit 30 Jahren eher erfolglos richtig gute Karotten anzubauen versucht.

Die Sonne brennt und Severin hat sein T-Shirt abgelegt, nachdem er garantiert 35 Minuten nur rumgealbert hat, das darf man hier. Er macht sich dann völlig unambitioniert aber in bester Laune daran, ein Beet zu jäten. Derweil sägt Thomas das Holz fürs Mittagsfeuer und Louis garettlet Stroh zum Kompost. Georges Waeber, der Gründer des Projekts, dirigiert wenn nötig dezent seine HelferInnen, hier ist alles feingestimmt und komplett entschleunigt. Und so geht es die ganze Stunde weiter bis zum 11-Uhr-Znüni. Georges muss mehrmals zu Tische rufen, hier wird sichtlich gerne gearbeitet.

Wenn ein Garten in der Seele wirken soll

LangSamer ist ein Gemüsegarten auf dem Terrain Gurzelen, gegründet im Frühling 2019. Auf rund 1000 m2 entfaltet sich eine Vielfalt an Gemüsen und Blumen, die ihresgleichen sucht. Ein Dutzend private KundInnen beliefert LangSamer, das St. Gervais und das Lago Lodge sowie die Gassenküche und im nächsten Jahr vielleicht auch das Foyer Schöni. Für 2 Franken pro Quadratmeter kann man sich für ein Jahr einmieten. Das Gemüse wird zu marktüblichen Preisen von den KundInnen abgenommen, natürlich in bester Bio-Qualität. Im Unterschied zur solidarischen Landwirtschaft trägt Georges aber das volle Risiko, falls es zu Ernteausfällen kommt.

Georges Waeber beschreibt: «Der Garten ist nicht auf Effizienz ausgelegt. Mit sorgsamer Hand gestaltet, in kleinen Strukturen, soll er die Schönheit und den Reichtum der Natur widerspiegeln.» Georges Ziel: Er möchte Menschen in suchenden oder schwierigen Lebenssituationen über den Garten wieder erden, sie den Pflanzen, Lebensmitteln und dem Boden näherbringen und letztlich sich selbst. Und er ist überzeugt: «Ein ästhetischer Garten wirkt in der Seele, eine Monokultur nicht.“ Vom Samen zum Samen möchte er den ganzen gärtnerischen Jahreskreislauf vermitteln: Von den Frühlingsgewächsen, über die Sommer- und Herbstkulturen bis zum Wintergemüse. Gerade heute hat er die ersten Nüssler-Samen ausgesät. Und das hat mich auf die Idee gebracht, selbiges zu tun. Sie sehen, es wirkt!

Lebenswelt lebendiger machen

Die Arbeit im Garten soll möglichst hindernisfrei sein, möglichst ohne administrative Hürden und Auflagen. Genauso wie Thomas sollen sie kommen und gehen, wie es ihnen guttut. Dennoch gibt es Spielregeln, wenn auch nur wenige: Gemeinsam anfangen zum Beispiel, Pause machen und gemeinsam die Arbeit beenden. Dieses Gemeinsame ist Georges wichtig: «Schön wäre, wenn man von Weitem nicht erkennen kann, wer jetzt genau hier in der schwierigen Lebenssituation steckt», meint er. Vielleicht muss man die Augen zukneifen wie die Impressionisten, damit die Schablone aus dem Kopf fällt und damit auch die Vorurteile.

Auch wünscht sich Georges, dass «die Menschen, die Gemüse beziehen, in Beziehung kommen zu den Menschen, die auf den Beeten arbeiten – und umgekehrt.“ So erhalte das „Beetli» ein Gesicht. Am schönsten wäre für ihn, wenn in der Zusammenarbeit mit sozialen Institutionen, die BewohnerInnen, die sich auf dem Feld betätigen, das Gemüse hernach gleich direkt in die Heimküche trügen. Solche Kreisläufe interessieren den Projektgründer.

Von der Idee zum ersten Korb

Das Wort „produzieren“ möchte der passionierte Gemüsegärtner wenn immer möglich vermeiden. Und er spricht davon, was ihm Freude bereitet: «Es ist sehr schön, ein Resultat zu haben, es ist sehr befriedigend, einen Korb Gemüse übergeben zu können.» Georges Waeber war jahrelang Gassenarbeiter in Biel. Seine Vorgehensweise sollte immer lebensnah und praktisch sein, über das eigentliche Problembesprechen und Lösungen finden hinaus. «Eine gemeinsame Tätigkeit lässt eine Beziehung wachsen», sagt er. Die Idee des Gartenprojekts trug er also seit Jahrzehnten mit sich herum. Ein fixfertiges Konzept brütete in der Schublade vor sich hin. Bis er im Baselbiet die Gelegenheit bekam und packte. In einer sozialen Institution konnte er mit BewohnerInnen säen, pflanzen und jäten. Jetzt tut er es auf dem Terrain Gurzelen. Und das soll möglichst lange so bleiben: «Als Sozialarbeiter bin ich sehr glücklich hier, besser kann es nicht sein. Als Gärtner «blüetet» manchmal das Herz, wenn ich in 20 Zentimetern Tiefe auf Drainage-Mergel stosse.»

Aber seis drum. Georges denkt lieber daran, wie er das Ganze noch schöner, noch kompletter machen könnte. „Der Garten gibt noch nicht das Bild ab, wie ich es mir wünsche“, sagt er und spricht von seinen Plänen: Mehrjährige Pflanzen, Hecken, Beeren, eine Feuchtzone… Alles im Bereich des Möglichen seit der definitiven Zusage des Kollektivs Terrain Gurzelen, bis Baubeginn in 3 bis 5 Jahren auf dem Gelände weiterarbeiten zu dürfen. Damit fällt auch der Stress weg, sofort ein anderes Stück Land finden zu müssen. Trotzdem will Georges offen bleiben für eine neue Fläche. Den Winter möchte er nun erst einmal nutzen, eine breitere Trägerschaft des Projektes aufzubauen, auch aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, der ihn schon seit Anbeginn unterstützt. Und natürlich möchte er die Zusammenarbeit mit den Institutionen stärken. Einige haben bereits Interesse gezeigt.

Kontakt: waeber.g@bluewin.ch oder Tel. 076 819 78 08

Mathias Stalder ist Sekretär bei der bäuerlichen Gewerkschaft Uniterre und führt die Veranstaltungsreihe «Nourrir la ville – Stadt ernähren» durch.