Biel hat die besten Voraussetzungen, die Lebensmittelherstellung wieder in den Mittelpunkt zu stellen: Eigenes landwirtschaftliches Land, eine Vielzahl an verarbeitenden Betrieben und eine wachsende Anzahl an Konsument*innen, die zu Akteur*innen eines nachhaltigen und lokalen Ernährungssystems werden möchten.
«Wo, wenn nicht in der Stadt und unmittelbar um sie herum? Und durch wen, wenn nicht durch die Stadtbevölkerung selbst?», fragt sich Tex Tschurtschenthaler, Aktivist der ersten Stunde der sogenannten Solawi (Solidarische Landwirtschaft) und Mitglied des Projektes «Stadt-Garten für alle» in Biel. Letzteres verfolgt die Idee, auf städtischem Land eine Solawi zu entwickeln.
Eine Vision für 2035 hin zu einer klimaresilienten Stadt
Indem wir den Anteil unseres Konsums an industriell hergestellten und weit hergebrachten Lebensmitteln reduzieren und durch lokale und nachhaltige Produkte ersetzen, sparen wir Emissionen ein. Nichts anderes fordert ein Gremium aus 42 Forschenden führender wissenschaftlicher Institutionen der Schweiz. Das Sustainable Development Solutions Network veröffentlichte im 2023 einen Leitfaden mit den grössten Hebeln für ein nachhaltiges Ernährungssystem.
Die Forschenden halten fest: Zivilgesellschaftliche Bürger*innen-Initiativen «sind oftmals wichtige Experimentierräume und Reallabore für wirkungsvolle Innovationen, um die Transformation des Ernährungssystems zu beschleunigen und zentrale Akteurinnen und Akteure entlang der Wertschöpfungsketten in den Prozess einzubinden.» Ihr Fazit: Je rascher diese Neuausrichtung gelingt, «desto besser stehen die Chancen, vom Wandel zu profitieren, Krisen zu verhindern und Kosten zu minimieren».
Ich schlage vor, dass in einem zweijährigen Prozess mit allen interessierten Akteur*innen eine nachhaltige Ernährungsstrategie «vom Feld auf den Teller» entwickelt wird, die sich an vier Themenfeldern orientiert:
- Lokalisieren und kurze Kreisläufe fördern: für eine ökologische Produktion, dezentrale Verarbeitung, handwerkliche Gastronomie, genossenschaftliche und partizipative Vertriebsmodelle und bäuerliche Märkte.
- Vermeidung von Food Waste (18’480 Tonnen pro Jahr alleine in Biel, 330 kg pro Person) und Förderung von Lebensmittel-Resteverwertung.
- Sicherung der Flächen für den Lebensmittelanbau, von landwirtschaftlichen Flächen und bäuerlichen Betrieben über Firmen, Land der Wohngenossenschaften bis zu öffentlichen Grünflächen.
- Stärkung der Ernährungs- und Umweltbildung zur aktiven Gesundheitsvorsorge und zur Förderung des guten Zusammenlebens.
Die Stadt Biel könnte so in Zukunft mindestens 30 Prozent des Lebensmittelbedarfs aus der Stadt und dem nahen Umland selbst decken – sich an einer Studie im Auftrag der Stadt Freiburg i. B. orientierend. In dieser wurde errechnet, dass 20 Prozent des Gesamtverbrauchs an Kalorien aus der Region stammen.
Weitere Ziele sind fruchtbare und gesunde Böden, sauberes Wasser, eine hohe Biodiversität, kurze Transportwege, eine transparente und faire Preispolitik und eine klimaresiliente Stadt.
Die eben skizzierte nachhaltige Ernährungsstrategie könnte so gleichzeitig ein innovatives Umfeld für neue Arbeitsplätze und Firmen im Ernährungsbereich schaffen. 32’400 Vollzeitäquivalente (VZA) gab es gemäss Bundesamt für Statistik im Jahr 2021 in Biel. Davon entfielen nur rund 1500 VZA auf das Lebensmittelgewerbe: 451 im Detailhandel, 7,5 in der Landwirtschaft, 944 in der Gastronomie, 7,5 im Fleischhandel und rund 34 Vollzeitstellen im Back- und Süsswarenbereich. Das Lebensmittelgewerbe hat also nur einen 4,6-prozentigen Anteil an der gesamten Erwerbsarbeit. Was, wenn wir diese Zahlen bis 2035 verdoppeln oder gar verdreifachen könnten?
Fünf praktische Beispiele, die Biel verändern könnten:
- Öffentliches Beschaffungswesen und das Recht auf Nahrung
Mit der Umsetzung der Initiative für gesunde Ernährung wurde ein Meilenstein gelegt. Seit Januar 2023 werden jährlich rund 270’000 möglichst regionale und ökologische Mahlzeiten für die Tagesschulen und Altenheime gekocht. Jetzt könnten wir das noch weiterentwickeln, z. B. mit einer Kantine für einen Teil der rund 2500 Angestellten der Stadt Biel. Oder in dem die Produkte für die Grossküche direkt von wenigen landwirtschaftlichen Betrieben kämen, mit denen langfristige und faire Abnahmeverträge gemacht würden. Die Politik sollte auch gewährleisten, dass «eine qualitätsvolle und nachhaltige Ernährung für die gesamte Bevölkerung zugänglich ist». So formuliert es das Geneva Right to Food Manifesto von 2023. Das Manifest fordert u. a. der Diskriminierung aufgrund von Einkommenunterschieden ein Ende zu setzen.
- Stadt-Garten für alle
Die Stadt Biel besitzt rund 50 ha landwirtschaftliches Land. Mit 2 ha Land können 500 Menschen alleine mit Gemüse versorgt werden. Aus aktuell exklusiven Räumen, reserviert nur für die konventionelle Landwirtschaft, könnten partizipative Räume mit einem immensen Potenzial entstehen. Tex Tschurtschenthaler rechnet auf Basis des Factsheets «Flächen und Mengen» der Solawi-Kooperationsstelle vor: «Rund 60 ha Landwirtschaftsfläche und kleine Bäckereien, Käsereien, Tofureien usw. ernähren eine Nachbarschaft von 500 Bewohnenden mit ihrem Bedarf an Gemüse, Kartoffeln, Mehl, Flocken, Griess, Pasta, Linsen, Tofu, Öl, Tafelobst, Most, Beeren, Konfitüre, Honig, Milch, Joghurt, Käse, Butter, Eiern und Fleisch.» Ferner betont er: «Lokale partizipative und solidarische Landwirtschaft und Verarbeitung sind von ihrem Wesen her gemeinschaftlich und biodivers. Damit entstehen, neben frischem Gemüse und Brot, lebendige Nachbarschaften.»
- Essbare Stadt
Die Stadt Biel könnte aktiv neue und bestehende Gemeinschafts- und Mikrogärten auf ihren rund 100 ha Grünfläche unterstützen. Die Stadt Lausanne macht es vor mit rund 20 sogenannten «plantages» auf gemeindeeigenen Parzellen. Über die ganze Stadt verteilt nutzen etwa 600 Bürger*innen diese 6 bis 36 m2 grossen Stücke. Und es gibt sogar eine Warteliste. Mit «jardins de poche» wurde eine Minivariante von 1 bis 2 m2 lanciert. Bürger*innen, Vereine oder auch Unternehmen können eine Erlaubnis zum Anlegen eines kleinen Gartens erhalten. Die Stadt unterstützt die Gärtner*innen mit einem kostenlosen Starterkit (Behälter, Erde und Saatgut). Bereits wurden rund 100 solcher Kleinstgärten realisiert. Der Platz wird eng, sodass die Stadt Lausanne für weitere Flächen nun aktiv auf private Immobilienbesitzer und Genossenschaften zugeht. Auch möchte die Stadt zunehmend die Dächer als Gärten nutzen.
- Innovationsfonds
Der Bund fördert bereits Infrastrukturprojekte im ländlichen Raum, die eine ökonomisch und ökologisch nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln ermöglichen. Selbiges könnte für die Städte gelten, sodass ein möglichst vielfältiges Lebensmittelhandwerk entstehen kann – selbstverständlich im Austausch Stadt-Land. Nicht im Sinne von Konkurrenz, sondern Kooperation, gerade mit den Landwirt*innen und den bestehenden verarbeitenden Betrieben in der Region. Dazu bräuchte es eine Bestandsaufnahme des bestehenden Ernährungssystems. Wo sind die Stärken und Schwächen? Welche Bedürfnisse sind vorhanden?
- Die Rolle der Genossenschaften und Privatfirmen
Sie könnten ebenfalls wichtige Treiber eines Wandels des lokalen Ernährungssystems sein, denn sie verfügen über Land, Infrastruktur, Personalkantinen und nicht zuletzt über die finanziellen Mittel. Es ist attraktiv, sich für Nachhaltigkeit einzusetzen, und nebenbei ist es auch dringend notwendig. Nachhaltigkeitsziele werden mittlerweile von allen wichtigen Firmen formuliert.
Wer bestimmt, was wir essen? Wie weit wollen wir unsere Lebensmittel transportieren? Wie viel Umwelt darf unsere Ernährung zerstören? Und wie wollen wir unsere Versorgung in Zukunft sichern? Wie können wir Food Waste verhindern?
Viele grundlegende Fragen werden wir beantworten können, wenn die Stadt und die Bevölkerung hier eine aktive Rolle einnehmen.
Text
Mathias Stalder ist zweifacher Vater, Projektleiter der Plattform Stadt Ernähren und im OK von BANKETT de BIENNE, Mitglied von Stadt-Garten für alle und der Foodcoop Biel-Bienne. Der Artikel ist in der Vision 2035 Nr. 49 vom September 2024 erschienen.
Foto:
Ursina Eichenberger
Spärs, Goldhubelmatte (hier oben im Bild) und Zihlmatte bei Port am Aareufer sind drei Flächen mit insgesamt 2,5 ha, die in den kommenden Jahren vielfältig bewirtschaftet werden könnten: Agroforstwirtschaft, Gemüse- und Getreideanbau, Öko- und Biodiversitätszonen, Beweidung durch Schafe und Ziegen.